Von Viren, Masken und dem neuen politischen Körper
Skizzen einer politischen Theorie der pandemischen Gesellschaft
Von Viren, Masken und dem neuen politischen Körper setzt am Konzept der Maske an und möchte in historischen Testbohrungen zeigen, dass europäische Wissensbestände und kulturelles Selbstverständnis der westlichen Welt die Schutzmasken auf prekäre Weise symbolisch aufladen. Aus einem entscheidenden Werkzeug der Pandemiebekämpfung wird ein Mythos von Verschleierung der Identität, der in der Rede vom Maulkorb nur seinen populistischen Höhepunkt findet. Das in einer Genealogie der Maske geborgene Dispositiv Maske/Gesicht transportiert nicht nur eine Skepsis gegenüber Masken, sondern tradiert auch ein vormodernes Verständnis menschlicher Gemeinschaften: Bis heute aktualisiert dieses Dispositiv rassistische Vorurteile und hält koloniale Denkformen am Leben. Mit der pandemischen Gesellschaft gilt es von diesem kulturellen Erbe Abschied zu nehmen. Wer sich nicht maskieren will, ist nicht modern gewesen.
Damit stellt sich zugleich die Herausforderung an die Politische Theorie, einen adäquaten Referenzrahmen für jenen neuartigen Gesellschaftstyp zu entwerfen. Wie lassen sich Viren in eine sozialphilosophische Perspektive integrieren? Da die Pandemie weder reine Naturkatastrophe, noch bloßes Kulturprodukt ist, braucht es eine biopolitische Perspektive auf unsere Gegenwart. Die Pandemie konfrontiert uns mit einer unsichtbaren Tiefenzeit des Infektionsgeschehens und bedarf alternativer Schlüsselkonzepte wie der Immunologie und der Interkorporalität. Darin tritt die Viruszelle als neuer zentraler Akteur auf, die einem Wirt ähnlich die intersubjektiven Beziehungen zersetzt. Neben den direkten, tödlichen und gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Virus äußert sich im Psychokreislauf der im Lockdown isolierten ›Höhlenmenschen‹ das archaische Zerstörungspotenzial der Katastrophe. Die Höhlenmenschen sind voller Sorge, Angst, von Verlassenheit bedroht und durch ihre Erfahrungsarmut vom Vergessen bedroht. Darin deutet sich die Möglichkeit eines neuen politischen Körpers an, der unser aller Verletzlichkeit anerkennt und den es in der postpandemischen Politiktheorie als eine neue leibliche Verbundenheit zu entwerfen gilt.