Eine Methode, einen Begriff zu verstehen, ist die Gegenüberstellung mit seinem Gegenteil. Für den Psychoanalytiker Verhaeghe bildet Narzissmus den Gegenpol zu Melancholie. Narzissmus bedeutet Vollständigkeit und Omnipotenz und greift zurück auf die Identifikation mit der allmächtigen Mutter. Allmächtig deshalb, weil sie dem Kind alles geben kann, was es benötigt. Während der ödipalen Phase löst sich diese Identifikation auf. Melancholie resultiert aus Verlust und Hilflosigkeit.
Wir sind es gewohnt, diese Ideen auf der Ebene des Individuums zu interpretieren – das Kind mit seinen Eltern, der Ödipuskomplex usw. Als Freud seine Texte »Zur Einführung des Narzissmus« und »Trauer und Melancholie« schrieb, ereignete sich dieser Konflikt auf globaler Ebene. Der Erste Weltkrieg erschütterte den phallischen Narzissmus auf brutale Art und Weise, worauf eine Phase des allgemeinen Trauerns folgte: Trauer über den Verlust des Vaters: des Vaters. Nach Verhaegehe kündigte diese Trauer das Ende des Patriarchats bzw., mit anderen Worten, das Ende traditioneller Autorität an. Dies zwingt uns, das Konzept der Autorität als solches zu überdenken.
Biographisches:
Paul Verhaeghe, PhD, ist ordentlicher Universitätsprofessor an der Universität Gent und hat den Lehrstuhl für Psychoanalyse und Beratungspsychologie inne. Er hat acht Bücher und über zweihundert Aufsätze veröffentlicht. Seit 2000 liegt sein Forschungsschwerpunkt auf dem Einfluss gesellschaftlicher Veränderungen auf psychologische und psychiatrische Störungen. In seiner jüngsten Publikation Identiteit (auf Deutsch: Und Ich? München: Kunstmann 2013) legt er den Einfluss des Neoliberalismus auf unsere Identität dar. Seit Kurzem setzt er sich mit einem neuen Forschungsgebiet auseinander: patriarchale Autorität und ihr Verschwinden.